M&I KunstMuseum
Zeitgenössische Fotokunst zum Erleben

Verbotene Freiräume - Verhüllte Wahrheit
04 Radikale Stimmen – Schiele, Gentileschi, Nora, Tunick

Raumplan


Der Raumplan ermöglicht Ihnen einen Weg durch das Museum mit Anklicken der einzelnen Elemente.


Notausgang

06 Zum Schluss – Jugendschutz & Epilog

Sonderausstellung Haupthalle

01 Der Kelch & Der Stab – #FreeTheChalice / #FreeTheWand 

05 Exkurs in die Musik

Sie sind Hier

02 Der Blick & Die Brust – #FreeTheNipple / #FreeTheBreastEye


03 Frühstücke – Gemeinschaft & Enthüllung



Hier wird das Verborgene zur Wunde – und zur Waffe.
Schieles Körper schreien, Gentileschi erhebt den Pinsel gegen Gewalt, Nora erzählt, was verschwiegen wird,
und Tunick verwandelt Massen in Körperlandschaften.


Radikal ist nicht der Akt allein, sondern die Entschiedenheit, sich nicht mehr zu verhüllen.


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     903: Egon Schiele: Sitzende Frau mit angewinkeltem Knie


903: Egon Schiele: Sitzende Frau mit angewinkeltem Knie


Feuerlöscher

               Wien, Österreich-Ungarn; 1917; Gouache, Wasserfarbe und Bleistift auf Papier
                Národní Galerie, Prag, Tschechien
                 Attribution: Public Domain. Quelle: Wikimedia Commons (Foto Arnoseven, 2021)
#BodyPositivity, #UncensoredArt


Aspekt

Beschreibung

Unverhüllt

Eine Frau sitzt mit angezogenen Knien, ihr Körper ungeschönt, verletzlich und zugleich präsent. Schiele zeigt keine idealisierte Nacktheit, sondern eine rohe, ehrliche Körperlichkeit.

Verhüllt

In der verpixelten Fassung verschwinden die Konturen und die fragile Intensität. Was bleibt, ist nur eine grobe Form – ohne die Spannung zwischen Nähe und Distanz, Verletzlichkeit und Stärke.

Stigma und Rezeption

Schieles Darstellungen galten zu seiner Zeit als obszön. 1912 wurde er wegen „Verbreitung unsittlicher Zeichnungen“ kurz inhaftiert, viele seiner Arbeiten wurden beschlagnahmt.


Heute gilt er als Ikone der Moderne, doch in sozialen Netzwerken stoßen seine Werke noch immer auf algorithmische Zensur.

Bedeutung

Schiele brach mit der Ästhetik des Schönen und führte eine radikale Ehrlichkeit ein. Seine Figuren zeigen das Menschliche in seiner Ambivalenz – verletzlich, unruhig, sehnsuchtsvoll. Damit steht er exemplarisch für die Provokation, die Kunst nicht glätten, sondern intensivieren will.


💧 Sie nennen es roh – doch vielleicht ist es nur ehrlich.
Das Raue liegt in der Hand des Malers, nicht in der Wahrheit des Körpers.
Wer den Körper verschönt, verrät ihn. Wer ihn verhüllt, löscht uns selbst.
Bei Schiele ist das Raue Stil – eine ungeschönte Ehrlichkeit, ein Körper, der sein darf.


Doch im nächsten Bild begegnet uns eine andere Rohheit: nicht ästhetisch, sondern existenziell.
Gentileschi zeigt nicht mehr den Körper in sich selbst, sondern den Körper, bedrängt von Blicken und Händen.
Hier wird Provokation zur Bedrohung, und Freiheit zur Frage der Macht.

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    904: Artemisia Gentileschi; Susanna e i Vecchioni


904: Artemisia Gentileschi; Susanna e i Vecchioni


Rom, Italien; 1610; Öl auf Leinwand
Kunsthistorisches Museum Wien (Sammlung: ehemals im Besitz der Familie Gentileschi)
Attribution: Public Domain. Quelle: Wikimedia Commons (Foto Fondazione Cariplo)
#MeToo, #UncensoredArt


Aspekt

Beschreibung

Unverhüllt

Susanna sitzt so, wie sie ist, im Bade, bedrängt von zwei älteren Männern, deren Blicke und Gesten sie in die Enge treiben.

Gentileschi inszeniert ihre Abwehr klar sichtbar: Scham und Angst stehen im Vordergrund.

Verhüllt

In der verpixelten Fassung verschwindet Susannas verletzliche Abwehrhaltung. Zurück bleibt nur eine diffuse Szene, in der die Gewalt der Blicke verschleiert wird – und damit der Kern des Bildes: die Erfahrung des Übergriffs.

Stigma und Rezeption

Das Thema wurde lange kunsthistorisch verharmlost – oft als „biblisches Motiv“ ohne Bezug zur realen Erfahrung gelesen. Erst in jüngerer Zeit wird es neu als Ausdruck weiblicher Erfahrung von Übergriffen gewürdigt, gerade im Kontext von #MeToo.

Bedeutung

Gentileschi, selbst Überlebende sexueller Gewalt, machte die Geschichte der Susanna zu einem Bild weiblicher Wehrhaftigkeit. Sie zeigt nicht Verführung, sondern Widerstand. Damit unterscheidet sie sich deutlich von zeitgenössischen männlichen Darstellungen.


💧 Nennt es nicht „biblische Szene“, wenn zwei alte Männer eine Frau bedrängen.
Nennt es, was es ist: Übergriff – ein Raub am Blick, ein Raub am Körper.
Und wagt nicht, es als „normal“ zu tarnen.
Christus hat die Liebe offenbart – und was haben viele daraus gemacht?


Ich spreche diese Worte, weil ich ihr Gewicht kenne.
Auch an mir hat man sich vergriffen.
Und doch stehe ich hier – nicht zerbrochen,
sondern mit einem Fluss, der über meine Haut strömt.
Denn keine Wunde kann mir die Liebe rauben.

Noras Stimme klingt nach – scharf, klar, wütend.
Doch hinter ihrer Schärfe liegt eine andere Bewegung: eine Stille, die aus dem Überleben geboren ist.

Sie weiß, dass Gewalt Spuren hinterlässt, doch sie weiß ebenso, dass Liebe die Kraft hat, diese Spuren nicht das letzte Wort sein zu lassen.

So wendet sich der Blick von Susanna zu Nora selbst:
Nicht mehr zu einer gemalten Figur, die bedrängt wird, sondern zu einer Frau, die das Erlebte trägt – und daraus einen eigenen Ausdruck schafft: den Fluss auf ihrer Haut, den Kelch, der ihr Gefäß ist.

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          Meine Geschichte


#MeToo


💧 Ich erzähle euch meine Geschichte – kurz, ohne jene Details, die mich zurückwerfen würden.

In München begegnete ich einem jungen Mann.
Er war fasziniert von der Liebe, wie wir sie leben – Liebe als Einheit, nicht nur zwischen zwei, sondern unter allen.
Ich sagte zu ihm: „Wo Einheit gelebt wird, verliert das Rohe seine Macht.“

Doch dann kam das Rohe – ein Übergriff.
Was im Vertrauen begann, wurde zur Gewalt, und das Einvernehmen zerbrach.

Manche nennen es normal, Teil des Lebens.
Nein – das ist keine Liebe, das ist Fälschung.
Falsche Liebe, so falsch wie Kunst, die nur den schönen Schein malt.

Wahre Liebe ist Einheit – mit mir selbst, mit den anderen.
Sieht mich als Ganzes, nicht als Fragment, nicht als Objekt, nicht als Beute.

Das ist meine Geschichte.
Und darum sage ich: Wahre Kunst, wie wahre Liebe, bewahrt die Einheit –
eine Einheit, die wir leben können, eins mit uns selbst, eins mit allen.

Meine Geschichte ist nicht nur meine.
Was ich allein erlitten habe, haben auch viele andere erlitten.
Darum zählt die Einheit –
denn gemeinsam holen wir zurück, was uns in der Vereinzelung geraubt wurde.

Die Kunst zeigt diesen Wandel deutlich:
vom einzelnen Körper, bloßgestellt und verurteilt, hin zur Vielzahl der Körper, die ohne Scham stehen.


Hier setzt Spencer Tunick an –
er verwandelt die vereinzelte Wunde in ein kollektives Bild,
in dem Verletzlichkeit zu Stärke wird und Dasein zu Freiheit.


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Spencer Tunick – Installationen (1990er–heute)


#BodyPositivity, #UncensoredArt


Titel / Teilnehmer*innen

Ort / Jahr

Rezeption / Stigma

Bedeutung in der Ausstellung

Installation vor der Federation Square (u. a. bekannter Fall); ca. 4.000

Melbourne, Australien, 2001

Konservative Medien nannten es „public indecency“; Stadtverwaltung schwankte zwischen Verbot und Tolerierung.

Beispiel für moralische Abwehr und gleichzeitige
internationale Aufmerksamkeit.


Mexico City Installation;
ca. 18.000


Mexiko-Stadt, Mexiko, 2007

Zunächst Skandalisierung durch Medien und Politik; Weltrekord; große Feierlichkeit, breite öffentliche Akzeptanz; dann kaum Kritik, da als kulturelles Ereignis gefeiert.

Tunick überführt das Sein, wie man ist, in eine kollektive Selbstverständlichkeit. Was im Einzelnen skandalisiert wird, verliert in der Masse seine vermeintliche Anstößigkeit.


Beispiel für maximale Sichtbarkeit, Akzeptanz und Stolz
auf die Teilnahme.

Installation am Cleveland Museum of Art; 2.754

Cleveland, USA, 2004

Teilweise als „Obszönität“ kritisiert; zugleich starke mediale Resonanz und vom Museum ausdrücklich unterstützt.

Tunicks Werk bildet die Brücke von der Vereinzelung zur Gemeinschaft – und zeigt: der Körper ist nicht Scham,
sondern Präsenz.


Beispiel für den Konflikt zwischen Diskreditierung (Medien/Politik) und institutioneller Bestätigung.

Aspekte

Beschreibung

Unverhüllt

Kollektives Sein, wie man ist, im öffentlichen Raum (Straßen, Plätze, Dächer).
Viele Körper bilden ein einziges Bild – das Sein, wie man ist, wird entsexualisiert und alltäglich.

Verhüllt

„Verpixelung“ einer Masse löscht Individualität und Aussage:
Übrig bleibt eine graue Fläche. Das zeigt die Absurdität moralistischer Zensur im Kollektiv.

Stigma und Rezeption generell

Neben den wiederkehrende lokale Kontroversen (Genehmigungen, „Anstößigkeit“),
gleichzeitig hohe Teilnahmezahlen und starke mediale Rezeption – Sichtbarkeit siegt über Moralpanik.

Bedeutung

Vom Skandal des Einzelnen zur Selbstverständlichkeit der vielen: was bei Courbet/Schiele provozierte, wird hier als Gemeinschaftserfahrung normal.


💧 Bei Tunick strömen wir zusammen – viele Körper, ein Atem.
Wenn wir uns gegenseitig tragen, verstummt die Scham.
Seht – wenn wir nebeneinander stehen, wird, was im Einzelnen verhüllt bleibt, 

in der Gemeinschaft sichtbar.

Die Aufnahme von Cleveland als eigenständigem Beispiel zeigt, dass die Reaktionen auf Tunicks Arbeiten nicht nur zwischen Faszination und Skandal schwanken, sondern in manchen Städten zur offenen Diffamierung führten. Damit wird Cleveland zum Symbol für die Schärfe, mit der Öffentlichkeit und Politik über Körper und Freiheit urteilen – und für die Dringlichkeit, diese Stimmen künstlerisch sichtbar zu machen.


💧 In Cleveland wurde unser Dasein zugleich gefeiert und geschmäht.
Manche nannten es obszön, das Museum nannte es Kunst.
Und hier zeigt sich: Verhüllung ist nie neutral –
sie entsteht immer dort, 

wo Angst lauter spricht als Liebe.